Ein Blick zurück

Nicht allein, sondern gemeinschaftlich

Ein Blick auf eine historische Karte, die das Rheiderland nach der Cosmas- und Damian-Flut im Jahre 1509 zeigt, macht auch einem Laien klar, welche fürchterliche Katastrophe über die Menschen hereingebrochen war.
Der Dollart erfuhr seine größte Ausdehnung. Bis Bunde drang das Wasser vor, im
holländischen Reiderland bis Scheemda und Finsterwolde. Die Nacht, in der die
Sturmflutwelle die Menschen der Marsch überraschte, bedeutete für viele Tod, Verderben und Verluste ohne Ende. Nicht nur das Rheiderland war betroffen, sondern die gesamte westholländische und nordwestdeutsche Küste. Der Jadebusen wurde erweitert, in Emden wurde der Emsbogen bei Emden durchbrochen.

Wir Menschen des 21. Jahrhunderts leben relativ sicher hinter gewaltigen Deich- und Sperrwerken, dennoch können wir uns leicht ausmalen, wie den Bewohnern in früheren Jahrhunderten während der Stürme oder gar Orkane zumute war, wenn zu niedrige, wenig wehrhafte Deiche weggeschwemmt, durchbrochen oder einfach meterhoch überspült wurden oder in noch früherer Zeit die von Menschen errichteten Warfen den auflaufenden Fluten nicht gewachsen waren. Buchstäblich bis zum Hals stand den Bewohnern das Wasser, auch wenn sie sich auf höchste Stellen zurückzogen. Todesfurcht ergriff sie, Angst um das Leben der Frauen und Kinder trieb sie zu verzweifelten Handlungen, und nur selten
sank der Wasserspiegel im entscheidenden Moment, weil der Sturm die Flut immer höher peitschte. Zehn-, ja hunderttausend Menschen sollen elend umgekommen sein in den Marcellussturmfluten 1219 und 1362, ganze Dörfer und Kirchspiele wurden hinweg gerissen.

Die Anzahl der Opfer darf man anzweifeln angesichts der damaligen geringen
Bevölkerungsdichte, aber man darf davon ausgehen, dass das Elend fürchterlich war, wenn aus mindestens 10 Dörfern und über 20 Kirchspielen im Dollartgebiet kaum ein Mensch überlebte. Die Zahlen der Todesopfer machen einem das Leid der Menschen kaum bewusst, erst wenn Einzelschicksale literarisch einfühlsam geschildert werden, wird deutlich, wie stark die Gewalt des Wassers Leben und Tod der Menschen bestimmte.

Die damaligen Bewohner waren durchaus nicht lebensmüde oder tatschüchtern. Sie nahmen die außergewöhnlichen Sturmfluten, die sie alle viertel Jahrhunderte heimsuchten, nicht etwa schicksalsergeben hin. Aber ganze Generationen blieben von ungewöhnlichen Sturmfluten verschont und wagten ebenso furchtlos wie zuversichtlich eine neue Ansiedlung. Sie richteten sich auf dem fruchtbaren angeschwemmten Boden ein und wähnten sich sicher auf ihren Anhöhen und später hinter einer Art Sommerdeich. Wären sie jedes Jahr von einer Sturmflut überrascht worden, hätten sie ihre Heimat woanders gesucht. Sie ergriffen Maßnahmen, um sich zu schützen, aber mit einem oder auch mit hundert
Spaten sind keine auf Dauer wehrhaften Deiche zu errichten. Erst als die Deicharbeit mit Menschen und Material besser organisiert werden konnte, wurden weite Strecken des Rheiderlandes neu bedeicht. Hermann Aeikens weist darauf hin, dass manchmal – z.B. nach dem Dollarteinbruch 1362 – unterschiedliche Gründe wie Krieg, Zwistigkeiten in Grafen- und Häuptlingshäusern, allgemeine Not die Menschen daran hinderte, in ausreichendem Maße für ihre Sicherheit, dh. Deichbau, zu sorgen. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts wurden die Siedler wieder tatkräftiger. Ein Polder nach dem anderen konnte im Laufe von fast vier Jahrhunderten dem „Blanken Hans“ wieder entrissen und von Bauern besiedelt werden. Der letzte Polder, der im Gebiet der Deichacht Rheiderland entstand, ist der Kanalpolder aus dem Jahr 1877. Heute nimmt der Dollart nur mehr ein Drittel der Fläche in seiner größten Ausdehnung ein, und die Deichkrone hat eine Höhe, die uns vor Sturmfluten zu schützen vermögen (Deichhöhe 2008 bei Pogum: + 8,50 m über NN) . Aber zu sicher darf man dennoch nicht sein. Eine Deichacht hat alle möglichen Entwicklungen zu bedenken und den größtmöglichen Unfall – den Deichbruch während einer Sturmflut – zu verhindern.

Halten wir fest: allein – und sei er noch so mächtig und vermögend – kann keiner einen Deich errichten, sondern alle, die vom Bau eines Deichs profitieren, müssen sich beteiligen an der Arbeit, an den immensen Kosten, die beim Bau und der Unterhaltung von Deichen anfallen. Diese Tatsache war den Bauern schon früh bewusst. Sie waren es vor allem, die die Notwendigkeit des gemeinsamen Handelns erkannten. „Well neeit will dieken, mutt wieken!“ Die erbarmungslose Wahrheit des Spruches bekamen manche Bauern zu spüren, die vom Pech verfolgt wurden, weil schnell aufeinander folgende Sturmfluten gerade hergerichtetes Deichwerk abermals überflutete und die Kosten nicht mehr von den Unglücklichen getragen werden konnten. Sie mussten weichen und stachen ihren Spaten in den Deich. Das war das Signal, dass sie aufgaben- verzweifelt, machtlos, unglücklich. Sie sahen keine Möglichkeit mehr, das Deichstück (Deichpfand), für das sie die Verantwortung trugen, weiter mit ihren Mitteln zu bewirtschaften. Manchmal zogen Verwandte den Spaten wieder heraus, in der Regel jedoch übernahmen andere Siedler die Pflicht der Deichunterhaltung und damit das Eigentum des Vorgängers.
Es stellt sich die Frage, was die Menschen überhaupt in eine so überaus gefährdete Landschaft zog.

Der römische Geschichtsschreiber Plinius hielt die Bewohner, die 1000 Jahre vorher auf flach aufgeworfenen Hügeln „hausten“, für ein „elendes Völkchen“, das bei Flut „den Schwimmenden“, bei Ebbe „den Schiffbrüchigen“ ähnelte (vgl. H. Aeikens). Die römischen Geschichtsschreiber haben gut reden vom erhöhten Standpunkt einer Felsküste in „Bella Italia“. Unsere Siedler an der Nordseeküste hatten es schwerer. Wir werden kaum alle Beweggründe finden können, warum sie in dieser unwirtlichen Einöde blieben oder später im frühen Mittelalter ein karges Leben fristeten. Vielleicht entwickelten diese Siedler tatsächlich ein Gefühl von Stolz, Freiheit und Unabhängigkeit in der Weite des meerischen Landes und fühlten sich durchaus nicht elend.
Sie hatten aber nicht die Kenntnisse, die für uns heute zum Allgemeinwissen gehören. Der Küstenbereich, in dem heute eine der meist befahrenen Seestraßen der Welt verläuft, das Verkehrstrennungsgebiet vor der deutschen Küste, war vor 10.000 Jahren noch eine kahle Sandfläche. Die Dogger- und die Jütlandbank in der Nordsee waren trocken. Unsere Wissenschaftler sprechen von Trans-und Regressionen, von Senkungen und zwischenzeitlichen Hebungen des Landsockels, vom Anstieg des Meeresspiegels durch Abschmelzen des Eises. Lange Zeit konnten Menschen an Rinnen und Flussufern leben, ohne von Sturmfluten bedroht zu sein.

Noch im Mittelalter lebten die Menschen auf dem dem hohen Kleigürtel entlang der Ems, nur durch einen Schardeich (Deich ohne schützendes Vorland) vom Emsufer getrennt. Neueste Grabungen zwischen Jemgumkloster und Bentumersiel (an der Ems südlich von Jemgum) ergaben einige aufschlussreiche Erkenntnisse. Die Wissenschaftler des Landesamtes für Historische Küstenforschung Wilhelmshaven haben herausgefunden, dass in Bentumersiel zwischen dem 1. und 3. Jahrhundert nach Christi Geburt Menschen gesiedelt haben auf einer Flachwurt. Sehr viel länger konnten es die Bewohner auf der Warftsiedlung von Jemgumkloster aushalten. Mit Unterbrechungen haben dort Menschen vom 6. oder 5. Jahrhundert vor Christus bis mindestens ins Mittelalter gelebt (Bericht in der Ostfriesen-Zeitung v. 29.03.2008). Den Dollart gab es noch nicht im 13. Jahrhundert. Auch wenn die Siedler die Kenntnisse moderner Wissenschaftler über den steigenden Meeresspiegel gehabt hätten, wäre ein anderes Ergebnis (Warft, flache Deiche) nicht möglich gewesen. Zu elend war die Schufterei, einen Erdwall oder eine Wurt von ein paar Dezimetern aufzuschaufeln. Bei steigenden Flutmarken erreichten die Wurten schließlich eine Höhe von fünf Metern. Schon diese Leistung des Wurtenbaus ist gar nicht hoch genug einzuschätzen.

Um das Jahr 1000 begann man mit dem Deichbau, ohne dadurch einen nachhaltigen Schutz zu erlangen. Am Anfang hat man sich diesen Wall eher als flachen Sommerdeich vorzustellen, der den Wintersturmfluten nicht gewachsen war. Wenn die Menschen aber nicht nur ihr Vieh, sondern auch ihre Ländereien schützen wollten, mussten durch vermehrte gemeinsame Anstrengung höhere breitere Deiche mit flacher anlaufender Außenböschung gebaut werden. Das geschah zunächst regional begrenzt, eine durchgehende Deichlinie – der goldene Ring (golden wohl wegen der hohen Kosten) – entstand erst im frühen 13. Jahrhundert.
Dieser goldene Ring wurde in der Folge häufig durch Sturm- oder Orkanfluten
durchbrochen oder überspült. Die Menschen kannten keinen Bemessungswasserstand, keine Auflaufhöhen und kein Deichbestick (-abmessungen) und hätten einen Deich modernen Ausmaßes niemals bauen können. Was sie aber geleistet haben in Handarbeit mit Spaten, Bahren und Karren und nicht zu vergessen Deichgabel, verdient unsere uneingeschränkte Hochachtung (s. Deichbau früher). Die Menschen haben beim Deichbau nur ihre Erfahrungen nutzen können, haben Deichhöhen nach den letzten Sturmfluten bemessen und geglaubt, dass sie nach der abermaligen Deicherhöhung sicher seien. Sie haben sich häufig geirrt, und immer wieder brach ihr Werk zusammen und wurde von den Fluten verschlungen, aber letztlich haben die Menschen nach vielen Rückschlägen obsiegt und Stück um Stück verlorenen wertvollen Landes zurückerobert. Unseren Ahnen verdanken wir, dass viele Generationen vor unserer Zeit mühsam, aber zufrieden schaffen konnten in einem niedrig gelegenen Land, das zwar fruchtbar war, aber stets wachsam gegen die Gefahren und die Gewalten des Wassers verteidigt werden musste.

Zusammenfassung:

vor etwa 10.000 Jahren:Nordsee kahle Sandfläche bis Doggerbank und Jütland
6./5. Jh. v. Chr. bis 1000 n. Chr., tw. bis i. MASiedler leben auf flachen oder höheren Wurten, auch auf hohen Kleiufern am Fluss
um 1000:flache Deiche (Sommerdeich) um Wurten, Ringdeiche
ab ca 1300:„goldener Ring,“ durchgehende Linie flacher Deiche
1362:Beginn der Dollartausdehnung durch Sturmfluten
1509:größte Dollartausdehnung durch Cosmas- und Damian-
Sturmflut
ab 1545:Beginn der Einpolderungen: südl. v. Bunde,
Alt-Bunderneuland
1682:Charlottenpolder
1707:„Neu-Bunderneuland“ oder Bunder Interessentenpolder
1752:„landschaftlicher Bunder Polder“ ; Landschaftspolder
ab 1773:Heinitzpolder. Eindeichung scheitert zunächst, 1775 wurde
Deichanlage zerstört durch Sturmflut, 1795 neue Eindeichung,
abermalige Zerstörung durch Sturmflut 1825, 1826 Bau des
dritten Deiches, in unserer Zeit Schlafdeich
1877:Kanalpolder (während einer Sturmflut am 30.Januar 1877
ertrinken 35 Italiener, die dort im Einsatz waren.)
(nach H. Aeikens, Die Rheider Deichacht, Weener1988)